"Die Europäisierung Europas"
Michael Fleischhacker, 15.2.2004, in der Pfarre Gersthof
Vortrag im Rahmen des EU-Osterweiterungs-Schwerpunktes der Pfarre Gersthof-St.Leopold im Frühjahr 2004.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eingangs ich muss mich bei Ihnen wohl ein wenig dafür entschuldigen, dass ich für meine Überlegungen zur bevorstehenden EU-Osterweiterung, zu denen ich von meiner Pfarre eingeladen wurde, einen doch etwas sperrigen Titel gewählt habe: Die Europäisierung Europas. Ich dachte, dass ich mit gutem Gewissen diesen etwas abstrakteren Zugang wählen könnte, weil sich Erhard Busek, der ja über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt, vor einigen Wochen stärker auf die praktischen Voraussetzungen für das Gelingen des größeren Europa konzentriert hat.

Auch das Wort von der "Europäisierung Europas" hat ja zunächst einen praktisch-politischen Aspekt. Es meint die Wiederherstellung der Einheit Europas nach der jahrzehntelangen Teilung durch den Kalten Krieg. "Für uns Polen", hat die polnische Botschafterin Irina Lipowicz mir wiederholt und sehr eindringlich gesagt, "endet erst mit dem 1. Mai 2004 der zweite Weltkrieg."

Und dennoch greift ein Europa-Denken mit Blick auf den Osten gerade aus christlicher Sicht noch zu kurz, wenn es sich geografisch innerhalb der Grenzen des "Europa der 25" bewegt und historisch nicht weiter zurückreicht als bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenn ich also für eine "Europäisierung Europas" plädiere, dann meine ich damit, dass wir über die Grenzen des Baltikums, Ostpolens und Griechenlands hinaus uns bis an die Ursprünge des Christentums zurück schauen sollten, um unsere eigene Position neu zu überdenken. Die europäische Tradition hat ja immer darin bestanden, die eigene Situation in Beziehung zur Umwelt und zur eigenen Vergangenheit beständig neu zu hinterfragen. Nicht zufällig kommt immer die Route Jerusalem-Athen-Rom zur Sprache, wenn wir über die Prägefaktoren sprechen, die nach weithin geteilter Überzeugung die europäische Identität ausmachen.

Wenn wir jetzt darüber reden, wie sich diese europäische Identität in den neuen Grenzen der 25 gestaltet, dann sollten wir also zum besseren Verständnis unserer selbst, zwei gedankliche Wallfahrten unternehmen: Eine in die Orthodoxie und eine zurück an den Ausgangspunkt unserer historischen Reise, an den Schnittpunkt von Judentum, Christentum und Islam.

Es scheint ja fast eigenartig, über "Osterweiterung" nachzudenken, ohne die langen, konfliktreichen Ost-West-Beziehungen innerhalb des Christentums in diese Überlegungen einzubeziehen. Man hat fast den Eindruck, als würde da etwas verdrängt. Wir erinnern uns noch gut an die Zeit des Balkankrieges Anfang der Neunziger Jahre, als es mit Blick auf die Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche hieß: Europa endet dort, wo die Orthodoxie beginnt. Eine Ansicht, die auch vor dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft häufig geäußert worden war und in der griechischen Orthodoxie für einige Verstörung gesorgt hat.

Wenn Christen über "Osterweiterung" reden, dann sollte das jedenfalls mit einer gewissen Sensibilität passieren. Das beginnt beim Wort "Ost" und seiner Tradition: Wenn wir "Orient" sagen, meinen wir natürlich den "Aufgang der Sonne". Das griechische Anatolí (altgriechisch Anatolé), das slawische Vostok und das lateinische Oriens waren und sind aber auch die Bezeichnung für Christus, die Sonne der Gerechtigkeit. Wir kennen sie aus dem wunderbaren Lobgesang des Zacharias (Lk 1,78), in dem vom "aufstrahlenden Licht aus der Höhe" die Rede ist, im griechischen eben vom Anatolí ex hypsous, im Lateinischen vom Oriens ex alto. Im unrevidierten Luthertext ist das Original übrigens noch erkennbar: "Durch die herzliche Barmherzigkeit Gottes/durch welche uns besucht hat der Auffgang aus der Höhe", heißt es dort.

Der evangelische Ostkirchenexperte Hermann Goltz, Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, hat auf einem Pro-Oriente-Symposion in Graz vor eineinhalb Jahren eine wunderbare Geschichte erzählt, aus der die hier angesprochenen Tiefenschichten des christlichen Ost-West-Verhältnisses ersichtlich werden: Kurz vor der politischen Wende fand er in einem Antiquariat im damals noch ostdeutschen Halle einen alten kirchenslawischen Druck, einen Prólog aus dem 17. Jahrhundert. Ein solcher Prólog enthält in der Ordnung des Kirchenkalenders Heiligen-Viten und Homilien und wurde im Mittelalter auch zum Lesenlernen verwendet. Bei seinen Recherchen fand Goltz heraus, dass dieser Prólog offensichtlich von russischen Altgläubigen mitgebracht wurde, die im zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppt worden und als Arbeitssklaven in der Nähe von Halle in einer Produktionsanlage für Gift-Massenvernichtungswaffen ums Leben gekommen waren.

Außerdem stellte sich heraus, dass diese Arbeitssklaven, die von den Nazis euphemistisch als "Ostarbeiter" bezeichnet wurden, auf ihrer Kleidung - in Funktion und Platz ähnlich dem Judenstern - die drei Buchstaben OST tragen mussten. Die Zwangsarbeiter haben diesen OST-Aufnäher mit einiger Wahrscheinlichkeit als VOSTOK / AUFGANG wahrgenommen, der exakten slawischen Nachbildung des Wortes Anatolí. Den deutschen Unterdrückern war hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bewusst, dass sie mit dem Aufnäher ihre Opfer mit einem Christusnamen geziert hatten, die so das Zeichen ihrer Passion in imitatione Christi zu trugen. Goltz fand außerdem heraus, dass die orthodoxen "Ostarbeiter" diese ihre Passion im Westen unter dem Zeichen OST / VOSTOK als eine ihnen von Gott wegen ihres Unglaubens auferlegte Buße verstanden.

Warum, könnte man fragen, sollten sich die Katholiken und Protestanten Westeuropas im Zuge der EU-Osterweiterung mit der Orthodoxie beschäftigen, wo doch politisch völlig klar ist, dass die EU über den überwiegend katholischen Osten nicht hinausgehen wird? Eben deshalb. Weil es europäische und christliche Tradition ist, über die politischen Realitäten hinaus zu denken, um sich selber besser zu verstehen.

Dazu gehört auch die Wiederentdeckung der jüdischen Tradition Osteuropas, die sich am besten über die Literatur bewerkstelligen lässt. Edgar Hilsenrath etwa hat dieser untergegangen Welt in seinem Roman "Jossel Wassermanns Heimkehr" ein Denkmal gesetzt, über das Andrzej Szczypiorski in einem Brief an den Autor schrieb: "Es war mir vergönnt, in den paar Tagen der Lektüre Ihres Romans die reine Luft des alten Europa zu atmen, das vor meinen eigenen Augen ermordet wurde und nun, dank Ihnen, Herr Hilsenrath, wiederauferstand und so lebendig erscheint wie in den Tagen meiner Jugend, so schön, so froh, so voll Zärtlichkeit und voll dieser geheimnisvollen inneren Unruhe, ohne die das menschliche Leben keinen Wert hat." Es gibt aber auch ganz neue, frische Zugänge zu dieser untergegangenen Welt: Der noch nicht 30jährige New Yorker Autor Jonathan Safran Foer beispielsweise hat mit seinem Roman "Alles ist erleuchtet" gezeigt, wie diese vergangene Welt, die nicht weniger zu Europa gehört als die gemeinsame Währung, auch heute noch in kräftigen Farben gezeichnet werden kann.

Wenn wir Christen bewusst über die Grenzen des politisch Geplanten hinausgehen wollen, dann müssten wir sogar die Türkei überspringen, deren möglicher Beitritt heute so vielen christlichen Europäern Angst zu machen scheint. Nach Armenien zum Beispiel, in den Kaukasus, den wir hier und heute fast ausschließlich mit Chaos und Bürgerkrieg verbinden. Vor kurzem fiel mir ein 20 Jahre altes, wunderschön illustriertes Buch mit ausgewählten Beispielen klassischer Armenischer Dichtung in die Hände. Das Buch, in dem teils 1000 Jahre alte Texte versammelt sind, heißt "Die Berge beweinen die Nacht meines Leides". Das klingt bereits wie eine Vorahnung auf die große Katastrophe von 1915, den Völkermord der Türken an den Armeniern, den Franz Werfel 1933 in seinem Roman "Die 40 Tage des Musa-Dagh" beschrieben hat und später der bereits erwähnte Edgar Hilsenrath in seinem "Märchen vom letzten Gedanken".

Was meinen wir also, wenn wir vom christlichen Europa reden? In Armenien wurden zu Beginn des 5. Jahrhunderts Bibelübersetzungen angefertigt, die Texte, die in diesem Buch versammelt sind, künden vom Kampf um die nationale Wiedergeburt der Armenier, der im elften Jahrhundert wieder aufgenommen wurde, nachdem man zunächst von den Omajjadenkhalifen, dann, im 8./9. Jahrhundert von den Khalifen von Bagdad bedroht und schließlich von den türkischen Seldschuken überwältigt worden war. Howhannés Jersnkazí, ein Autor aus dem 13. Jahrhundert, schildert in seinem Gedicht "Howhannés und Aschá" die Liebe zwischen einem Priestersohn und der Tochter eines Kadi, in der religiöse Feindschaft und Fanatismus glücklich überwunden werden. Nachdenken über religiöse Toleranz, ein halbes Jahrtausend vor Lessing.

Die "Europäisierung Europas", verstanden als christliche Selbstbefragung, die über geografische und zeitliche Grenzen hinausgeht, soll verhindern helfen, dass uns das gängige Verständnis des Begriffes "Osterweiterung" in die Sackgasse führt. Es gibt, vom polnischen Krakau über das ukrainische Lemberg, das armenische Erevan, das rumänische Iasi, das türkische Istanbul bis ins iranische Isfahan mit seinem armenisch-christlichen Stadtteil Neu-Djulfa so etwas "Metropolen der Ost-West-Partizipation" (Goltz). Es ginge darum, sich diese spannungsreichen Beziehungen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die heute vor allem im Okzident weitgehend verdrängt und vergessen ist. Auch unsere westliche Theologie, sei sie katholisch oder protestantisch, hätte hier einiges nachzuholen und wieder zu entdecken, was nicht zufällig aus dem westlichen Gedächtnis verschwunden ist.

Was also für uns Christen sicher nicht mit Osterweiterung gemeint sein sollte, ist die beliebte westliche Einbahnstraße, die geistig-kulturelle Integration des Ostens in den Westen, die überwiegend gedacht wird als geistig-kulturelle Umformung des angeblich unaufgeklärten Ostens in den angeblich aufgeklärten Westen. Wenn wir, in guter christlicher Tradition, gewissermaßen in die Vergangenheit vorausdenken, leisten wir vielleicht einen Beitrag dazu, dass sich die Kapitel europäischer Zerstörungen nicht auf der fortgeschrittenen Zeitspirale wiederholen.

 

Michael Fleischhacker ist Stellvertretender Chefredakteur der Wiener Tageszeitung "Die Presse" und lebt mit seiner Familie in unserer Pfarrgemeinde.