Ansprache Jahresschluss-Gottesdienst

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Ansprache von Univ.Prof. Dr. Regina Polak im Jahresschluss-Gottesdienst am 31.12.2016 in der Pfarrkirche.

Flucht und Migration: Ort, um Hoffnung zu lernen

Ich danke für die Einladung, Gedanken zum Jahresabschluss formulieren zu dürfen.

Was sagt man am Ende eines weltweit schwierigen Jahres – zumal im Wissen, dass uns die kommenden Jahrzehnte vor unzählige Herausforderungen stellen werden?

Ich habe mich entschieden, über die Hoffnung zu sprechen – jene gelehrte, gebildete Hoffnung, wie wir sie aus der Bibel und innerhalb unseres christlichen Glaubens lernen können. Denn aus christlicher Sicht lässt sich Hoffnung LERNEN, ist etwas Emotionales, aber ganz wesentlich auch etwas Mentales und eminent Praktisches. Und es ist ja nach  1  Petr 3,15 auch die HOFFNUNG, über die wir jedem Rede und Antwort stehen sollen – insbesondere wenn wir um der Gerechtigkeit willen leiden.

Dazu werde ich von jenem Thema ausgehen, das Europa spätestens seit dem Herbst 2015 intensiv beschäftigt: Flucht und Migration. Ich halte diese globale Herausforderung für eine Situation, in der Hoffnung gelernt werden kann.

Am 19. April dieses Jahres sagte Papst Franziskus zu den Flüchtlingen auf Lesbos: „Ihr werdet als Problem behandelt und seid in Wirklichkeit ein Geschenk!“

Ist das nicht ziemlich naiv – angesichts der nicht zu leugnenden Schwierigkeiten rund um Integration, politischen Islamismus und Terror sogar schlichtweg abwegig und gefährlich?

Man kann diesen Satz vermutlich nur verstehen, wenn man die theologische Bedeutung kennt, die Flucht und Migration, Exil und Diaspora, das Verhalten gegenüber Fremden in der kirchlichen Lehre und in der Heiligen Schrift haben. Papst Franziskus steht mit seiner Einschätzung in einer langen Tradition.

Zunächst das kirchliche Lehramt.

In der Instruktion des Päpstlichen Rats der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs „Erga migrantes Caritas Christi“ (Die Liebe Christi zu den Migranten) werden die internationalen Migrationen der Gegenwart als „Zeichen der Zeit“ bezeichnet, also als Wirklichkeit, die mit den Augen und Ohren des Glaubens betrachtet, eine Möglichkeit darstellen, heute Gottes Präsenz, seinen Zuspruch, aber auch seinen Anspruch zu erkennen. Das Dokument spricht in diesem Zusammenhang von einer Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt.“

Die Migrationen fordern uns also auf, an der Erneuerung der Menschheit mitzuwirken und in Wort und Tat den Frieden zu verkündigen. Indem wir das tun, können wir Gott wahrnehmen.

An anderer Stelle ist zu lesen: „Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen.“

Was für eine Hoffnung: Indem unserer Gesellschaften durch Migration religiös und kulturell vielfältiger werden, können wir dem lebendigen Gott selbst begegnen.

Freilich nur, wenn wir selbst die Gelegenheit nützen, am Aufbau einer universalen Gemeinschaft mitzuwirken. Dies ist die immense Aufgabe, die ansteht: zu lernen, was es bedeutet, in all unserer Verschiedenheit eine Menschheit zu sein; zu lernen, was Gerechtigkeit bedeutet.

Dass dies keinesfalls einfach ist, weiß der Päpstliche Migranten-Rat durchaus: „Gleichzeitig aber wirft das Phänomen der Migration eine regelrecht ethische Frage auf, nämlich die Frage nach einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung für eine gerechtere Verteilung der Güter der Erde (…) Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit eines wirksameren Einsatzes zur Realisierung von Bildungs- und Pastoralsystemen im Hinblick auf eine Erziehung zu einer „mondialen Sicht“, das heißt zu einer Sicht der Weltgemeinschaft, die als eine Familie von Völkern angesehen wird, der schließlich im Blick auf das universale Gemeinwohl die Güter der Erde zustehen.“

Migration wird also als Symptom gesehen – als Folge einer ungerechten internationalen Wirtschaftsordnung. Ergänzen müsste man noch: als Folge von Exklusionsprozessen, die weltweit Menschen für den ökonomischen Prozess überflüssig machen; als Folge von Kriegen, die auch Nachwirkungen des europäischen Kolonialismus und der amerikanischen Politik der vergangenen beiden Jahrhunderte sind; nicht zuletzt als Folge des Kliamwandels.

Was soll daran Anlass zur Hoffnung geben?

Nun: Ganz praktisch zwingen uns Flüchtlinge und Migranten dazu, all diese Probleme und Herausforderungen, um die man in Wissenschaft und Politik schon lange weiß, endlich anzugehen – hoffentlich noch zeitgerecht. Migration kann auch gesehen werden als Spiegel, als Seh-Hilfe, die uns hilft, nach den Ursachen der Migrationen zu fragen und unseren Anteil daran, aber auch unsere Handlungs-Möglichkeiten zu identifizieren. Migration weckt uns gleichsam auf – zweifellos etwas unsanft. Aber das kann auch Hoffnung geben.

Die tiefere, wesentlicher Hoffnung lässt sich freilich in den biblischen Erzählungen finden,  auf die sich auch Erga migrantes bezieht.

Denn der ethische Monotheismus der Heiligen Schrift wurde wesentlich Erfahrungen im Kontext von Flucht und Migration abgerungen.

Flucht aus Ägypten, 40 Jahre Wüstenwanderung, Vertreibung aus der Heimat und Exil in Babylon: Für die Verfasser zentraler Texte des Alten Testaments sind alle diese Erfahrungen zunächst eine Katastrophe. Aber – und das scheint mir mit Israel einzigartig in die Geschichte Eingang gefunden haben – diese Erfahrungen werden als Lernort genutzt. Geanu das können und sollen wir jetzt auch tun: An den Herausforderungen lernen.

Die biblischen Migranten lernen, wie der Fluch der Migration zum Segen werden kann. Aus den katastrophalen Erfahrungen werden spirituelle, ethische und politische Konsequenzen gezogen; Wenn wir solche Katartiohen zukünftig verhindern wollen, braucht es Rechte Gottesverehrung und eine soziale Gerechtigkeitspraxis, ein hohes soziales Ethos und denAufbau einer gerechten Gesellschaft ohne Arme. Weiters die Verpflichtung, die eigene Geschichte nicht zu vergessen, Täter wie Opfer beim Namen zu nennen, und sich durch Erinnerung und Lernen immer wieder aufs Neue dieser Erfahrungen zu vergewissern. All die soll Zusammenleben und Frieden sichern.

Statt die Ereignisse mit religiösem Vokabular zu legitimieren, weg- oder schönzureden, ziehen die Verfasser der Texte handfeste praktische Konsequenzen aus ihren  Erfahrungen: Wir brauchen Feste und Feiern des Erinnerns und Lernens. Wir brauchen eine Liturgie, die uns hilft, Gott zu verehren. Wir brauchen ein Recht und Gesetze, die Armut verhindern und die Schwächsten der Gesellschaft sowie die Fremden schützen. Das Alte Testament erzählt, wie dies gelernt und konkret umgesetzt wird. Als treuer Begleiter in diesen Lern- und Erkenntnisprozesses wird Gott selbst erkannt. Gott wird erfahren als jene Wirklichkeit, die  aus dieser Katastrophe befreit.

Von daher prägt Migration die Wirklichkeitsdeutung der Schrift bereits in der Genesis, als eine  Art  Matrix,  in  die  Gottes  Offenbarung  eingeschrieben  wird.   Die  Geschichte der Menschheit beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies, verbunden mit der Fähigkeit Gut und Böse unterscheiden zu können – und zu müssen. Mensch-Sein heißt vertrieben sein. Kain „geht sodann weg vom Herrn“ (Gen 4,16) – und je mehr sich die Nachfahren Kains vom Garten Eden entfernen, umso größer werden Gewalt und Sünde. Der „Neustart“ der  Schöpfung nach der Sintflut beginnt mit der Auswanderung Noahs. Abraham muss seine Heimat verlassen, um zum Segen für alle Völker werden zu können. Sein Urenkel Josef  macht als Zuwanderer Karriere am Königshof Ägyptens, bis die Nachkommen den Pharaonen unheimlich und versklavt werden. Aufbruch, Flucht, Vertreibung, Erfahrungen von Fremdheit ohne Ende.

Kann es sein, dass Migrationserfahrungen in besonderer Weise geeignet sind, für die Wahrnehmung der Präsenz Gottes zu sensibilisieren? Sind die dabei gewonnenen theologischen Einsichten in besonderer Weise belastbar, tragfähig und nachhaltig?

Die Erzählung von Moses, der von Ägypten nach Midian ins Exil flüchten musste, weil er einen ägyptischen Aufseher erschlagen hatte, legt dies nahe: Im Exil offenbart der Gott, der auch der unsere ist, seinen Namen. JHWH, zumeist übersetzt mit Ich bin der, der ich ich bin; der ich sein werde; ich bin da. Der französische Jesuit und Theologe Michel de Certeau übersetzt das Tetragramm, das ja ein Zeitwort ist, pointiert mit: „Ich habe keinen Namen als das, was Dich aufbrechen lässt.“ JHWH – der Name des Herrn, verweist auf lautere Präsenz, auf Veränderung, auf Aufbruch.

Was bedeutet dieser Name für uns in Österreich im Kontext von Migration und Flucht?

Erfahrungen von Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit, von Ausgeliefertsein und Abhängigkeit, von Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit sind nicht notwendig an Flucht und Migration gebunden. Aber sie können sichtlich dabei helfen, sich für die Frage nach Gott zu öffnen und auf ihn hören zu lernen. In diesem Sinn können auch wir Seßhafte uns an diesen Namen  Gottes erinnern und auf ihn unsere Hoffnung setzen. Er hat sein Volk schon so oft aus der Katastrophe geholt. Er wird es wieder tun, wenn wir auf ihn hören lernen. Biblisch betrachtet sind katastrophische Situationen der zentrale Ort, an dem Hoffnung gelernt wird. Diese Dynamik hat aber Voraussetzungen, damit sie sich entfalten kann. Sie verlangt wahrhaftige und nüchterne Selbstwahrnehmung, Selbstkritik und die Bereitschaft zu Umkehr und Reue: Was haben wir zu unserer Situation beigetragen? Was müssen wir verändern? So hat das Migrantenvolk Israel glauben gelernt, so können es auch wir lernen.

Die Gemeinden der Schriften des Neuen Testaments lebten zwar nicht mehr als Flüchtlinge und Migranten, aber auch ihre Lebenssituationen waren katastrophal. Nicht wenige Familien in den Gemeinden waren Opfer der Massenkreuzigungen der Gewaltherrschaft des Imperium Romanum; mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem hatten auch Judenchristen ihr kultisches Zentrum und damit ihre Hoffnungen verloren; in der heidnischen Welt erlebten sie sich als Fremdkörper. In dieser Situation wird nun erneut auf jene Narrative der Tradition zurückgegriffen, die schon mehrfach dabei geholfen haben, in verzweifelten Situationen Sinn und Hoffnung zu schöpfen: Narrative, die im Kontext von Migrationserfahrungen entstanden sind.

Wie sehr die frühen Christen ihre Lebenssituation mittels migrantischer Hermeneutik interpretiert haben, lassen viele Texte des Neuen Testaments erkennen. So lässt Lukas das Leben des Jesus von Nazareth an der sozialen Peripherie einer fremden Stadt beginnen. Die religiöse und soziale Veränderung beginnt nicht im politischen und religiösen Zentrum der Macht, sondern an dessen Rand. Das Motiv von Jesu Geburt in Bethlehem, sein Leben in Galiläa – also am Land bei den einfachen, armen Leuten – führt die Erfahrungen Israels mit einem Gott auf der Seite der Marginalisierten konsequent weiter. Jesus verkündet seine Botschaft als Wanderprediger in Galiläa und wird als Heimatloser beschrieben (Lk 9,58). Matthäus wiederum greift – siehe heute –  auf das Motiv der Flucht nach Ägypten zurück,  aus dem auch Jesus geholt werden muss (Mt 2, 13-15). Damit wird nicht nur bestätigt, dass Jesus zuinnerst mit Israel verbunden ist, auch die Parallele mit Moses ist offenkundig. Zugleich kann Ägypten so zum Ort möglicher Befreiung werden. Erneut wird an einem Migranten Gottes Wirken erkennbar.

Die Heimatlosigkeit des Jesus von Nazareth wird auch für seine Jünger zur Verpflichtung und Voraussetzung, um das Reich Gottes verkünden können. Das Selbstverständnis als „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) gehört zum Selbstverständnis der ersten Christen ebenso wie die Erfahrung der Diaspora. Wenn schließlich im Hebräerbrief (Hebr 13,2) die Gemeinde gemahnt wird: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt“, wird hier nicht nur an das Fremdengesetz des AT angeschlossen, sondern auch das Risiko benannt, Fremde aufzunehmen. Denn vor der Tür dieser verfolgten Diasporagemeinde konnte auch ein römischer Soldat stehen. Es ist also keinesfalls harmlos, Fremde aufzunehmen – und dennoch in biblischer Tradition verpflichtend. Christus selbst begegnet im Fremden (Mt 25).

Kern dieser Narrative ist regelmäßig die Erfahrung, dass Gott inmitten größter Hoffnungslosigkeit neues Leben schaffen kann.

Die biblischen Erzählungen können auch gelesen werden als Lerngeschichte im Kontext von Migration. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse können vor allem in bedrohlichen Lebenssituationen immer wieder fruchtbar gemacht werden. Hier ist der Ort, an dem Hoffnung gelernt wird – durch Erinnerung, also Vergegenwärtigung dessen, was die Vergangenheit für uns heute bedeutet.

Was bedeutet das für uns?

Die meisten von uns Christen in Europa gehören nicht zum Rand – wenngleich auch hierzulande bereits viel zu viele. Die meisten von uns leben auch nicht in katastrophischen Situationen. Dennoch fühlen sich viele von uns überfordert, ohnmächtig, hilflos und haben Angst vor den Veränderungen, die auf uns zukommen. Und das halte ich auch für  angemessen. Auch ich fürchte mich vor den kommenden Jahren. Mit historischer Vernunft betrachtet, geben die aktuellen Entwicklungen in der Weltpolitik, mit Blick auf Klimawandel, Armut und Terror wenig Grund zur Hoffnung.

Aber die biblische Logik ist anders und an diese möchte ich Sie heute, beim Übergang in das kommende Jahr erinnern. Die biblische Logik lebt aus der Hoffnung, die man gerade in so schwierigen Zeiten lernen kann, ja, die sich gerade hier bewähren kann.

Hoffnung meint hier nicht Optimismus, der ist wie der Pessimismus eine chronische Verstimmung. Hoffnung ist viel mehr. Hoffnung bedeutet psychologisch, auf der Basis an gute Erinnerungen aus der Vergangenheit schwierige Herausforderungen mit Zuversicht anzugehen. Solche Hoffnung kann – bedingt durch eine Kultur, in der es wenig Hoffnung gibt oder durch biographisches Schicksal schwach ausgeprägt sein. Aber unsere Glaube mit seiner Lernschule der Hoffnung eröffnet uns die Möglichkeit, unsere kleinen Hoffnungen in die große Hoffnung der Heiligen Schrift einzuweben und mit ihr hoffen zu lernen. Hoffnung, das bedeute mit Thmoas von Aquin: In Zeiten der Krise die Orientierung an Gott beibehalten. Hoffnung dieser Art ist nicht bloß ein Gefühl: Sie ist immer praktisch, sie handelt, sie wird widerständig. Sie trägt der Wirklchkeit nicht die Schleppe nach, sondern die Fackel voran.

Ich schließe mit einem Zitat aus Erga Migrantes, der großen Hoffnung auf die sich die Kirche bezieht, wenn sie auf die Migrationen blickt:
„Die Fremden sind daher „ein sichtbares Zeichen und ein wirksamer Aufruf jenes Universalismus, der ein grundlegendes Element der katholischen Kirche ist. Eine „Vision“  des Jesaia kündigte ihn an: „Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge … Zu ihm strömen alle Völker“ (Jes 2, 2). Im Evangelium sagt Jesus selbst voraus: „Man wird von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen“ (Lk 13, 29), und in der Offenbarung des Johannes schaut man „eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen“ (Offb 7, 9). Die Kirche ist jetzt auf einem mühsamen Weg zu diesem endgültigen Ziel. Die Migrationen können wie ein Verweis auf diese große Schar und eine Vorwegnahme der endgültigen Begegnung der gesamten Menschheit mit Gott und in Gott sein.“

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Ausführliche Darstellung:
Regina Polak: Migration, Flucht und Religion. Praktisch-Theologische Beiträge, Ostfildern 2017, i.E.

„Erga migrantes caritas Christi“ auf der Vatikan Website